Über die Anfänge der Malerei gibt es viele Erzählungen. Die einen sagen, die ersten Gemälde die je gemalt wurden, stellten die Körper von Tieren dar.
Der erste elementare Zweck der Malerei bestehe darin, die Gegenwart von etwas herauf zu beschwören, das herbeigesehnt wird, aber noch nicht da ist; oder das zu zeigen, was da war, aber jetzt nicht mehr da ist.
Eine hübsche Erzählung liefert Plinius der Ältere im ersten Jahrhundert nach Christus in seiner „Naturgeschichte“.
Er schildert die Anfänge der Portraitmalerei als die Geschichte einer jungen Frau aus Korinth, die bei Kerzenschein Abschied von ihrem Geliebten nimmt. Sie hält ihren Liebsten in den Armen und würde ihn immer gerne so festhalten. Kurzerhand greift sie zum Stift und zeichnet seine Schattensilhouette an die Wand. Sie will ihn für sich bannen. Denn mag auch die Liebe flüchtig sein wie dieser Schatten, die Zeichnung an der Wand bleibt. Und insofern ist die Malerei schattenfroh. Ohne Schatten wäre sie nicht, sie kommt aus dem Schatten, sie ist aus ihm heraus geboren.
Folglich ist es nicht überraschend, dass es häufig Körper und Gesichter sind, die in Bildern heraufbeschworen werden. So entsprang auch meine eigene Malerei unmittelbar aus dem Wunsch, meine kurz hintereinander verstorbenen Eltern, die ihre letzten Lebensjahre bei mir verbracht hatten, aus dem Schattenreich zurückzuholen.
Es ist die Gegenwart der Weg-Gegangenen, der Verstorbenen, der wir bedürfen, um zu trauern, um uns zu trösten und zu stärken. Gemälde können in diesem Sinne unseren Augen zuweilen gute Gesellschaft leisten.
Wie Lucian Freud, einer der berühmtesten zeitgenössischen Portraitmaler, der in England lebende Enkelsohn Sigmund Freuds sagt, geht es ihm beim Bildnis weniger darum abzubilden als ein Gefühl des Gegenwärtigseins zu vermitteln. Das Malen eines Gegenübers habe aber einen großen Vorzug gegenüber der Fotografie, denn das gemalte Portrait sei mit sinnlicher Spannung aufgeladen.
Der Hauptunterschied zwischen einem gemalten und einem fotografierten Portrait liegt nach seinen Worten in dem Maß, in dem Gefühle in die Malerei eingebracht werden können. Die Malerei sei von allen Künsten die sinnlichste. Sie verbindet Körper mit Körpern, Blicke mit Blicken, wobei die eine Seite dabei die des Betrachters oder der Betrachterin ist.
Bei der Fotografie geht das Einbringen von Gefühlen nur bis zu einem gewissen Grad, beim Malen sind dem so gut wie keine Grenzen gesetzt.
Wer sind die von mir Portraitierten? Warum erzählt diese Ausstellung von den Lebenden und den Toten?
Am Anfang meiner Portraitmalerei waren es meine persönlichen Toten, deren Silhouetten und Gesichtszüge ich zu vergegenwärtigen suchte. Wie gesagt waren es zunächst meine Eltern, dann waren es weggegangene oder verstorbene Freundinnen und Freunde, von denen ich Fotographien besaß, Menschen die mich in wichtigen Phasen meines politischen Lebens begleiteten, aber von denen ich Abschied nehmen musste.
Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise Sigrid Rüger, Rudi Dutschke oder Ulrike Meinhof. Sie wurden von mir nicht zu Lebzeiten portraitiert, sondern der Gedanke, sie zu malen sprang mich an, weil ich anlässlich ihres Todes oder anlässlich von Jahres- und Gedenktagen zu den 68ern fotografische Konterfeis dieser alten Freundinnen und Freunde in Zeitungen fand.
Eine zweite Gruppe sind Künstler: Literaten, Maler, Schauspieler und Poeten, die schon lange verschieden sind, deren Kunst mich begeisterte, deren Gedichte, Texte und Lebensgeschichte mich berührten. Insofern finden Sie hier Portraits meines Lieblingsdichters Bertold Brecht oder der englischen Autorin Virginia Woolf. Sie finden Bilder von beeindruckenden Schauspielern wie Ulrich Mühe.
Zu den Portraits einer dritten Gruppe wurde ich angeregt durch die im letzten Jahr im Paula Becker Modersohn Museum gezeigte Ausstellung über Paula Modersohn –Becker und ägyptisch- römische Mumienportraits, die der Direktor der Kunstsammlungen in der Böttchergasse Prof. Dr. Rainer Stamm kuratiert hat. Bei vielen der Ende des 19.Jahrhunderts erstmals ausgestellten und letztes Jahr in Bremen gezeigten Mumien mit auf Holz gemalten antiken Individual-portraits schaut der oder die Verstorbene gleichsam lebendig wie aus einem Fenster heraus. Diese Kunstwerke haben sich dank günstiger klimatischer Verhältnisse im trockenen Sandboden Ägyptens erhalten. Über die ursprüngliche Verwendung dieser antiken Bildnisse gibt es nur mehr oder minder vage Spekulationen. Als bereits zu Lebzeiten angefertigte Individualportraits dürften sie zunächst eine unbekannte „diesseitige“ Zweckbestimmung gehabt haben. Gleichzeitig sind sie in Hinblick auf den Tod der Portraitierten und auf ihre Verwendung als Teil der Mumienumhüllung entstanden. Jedoch immer nimmt der oder die Verstorbene den direkten Blickkontakt mit den vor ihm totenkultliche Verrichtungen praktizierenden Angehörigen auf.
Als ich beim Sperrmüll-Sichten alte Bretter fand kam mir spontan der Gedanke: dies Holz ist doch wie geschaffen zu einem Mumienportrait verarbeitet zu werden. Als nicht geschulte und ausgebildete Malerin geht es mir darum, durch Reproduktion und Kopieren der Köpfe der Antike den alten Meistern auf die Schliche zu kommen. Ich will sehen, welche künstlerischen Stilmittel und malerischen Ausdrucksformen diese Künstler anwendeten, will lernen wie es ihnen gelang so ausdrucksstarke und lebensechte Portraits zu schaffen, dass wir heute nach zwei Jahrtausenden, die Abgebildeten vor uns zu sehen meinen.
Schließlich bereitet es mir unglaubliche Freude, Freundinnen und Freunde, Weggefährten und Genossen, die mich heute begleiten und die Bedeutung für mich haben, zu portraitieren. Gleichzeitig greift der Tod in den letzten Monaten und Jahren mit Vehemenz und Macht in unsere Freundeskreise hinein. Die, die gestern noch lebendig unter uns saßen, mit uns gesellig waren, sind heute schon für immer von uns geschieden. Das Nachdenken um den unlösbaren Widerspruch von Leben und Tod, das Wissen um den nahenden Abschied, und die Vergänglichkeit der eigenen Existenz sind auch in diesem Sinne ein ständiger Antrieb, zu versuchen noch ein paar gute Portraits zu malen.